Freitag, 8. Juli 2011

Die letzten anderhalb Wochen



4. bis 13.Juli 2011

Montag
- 7:15 Ich stehe abholbereit am Haupttor. Der Leiter der LMC (Lutheran Mission Cooperative) nimmt mich mit zum Haus der Kirchenleitung in Arusha, in dem auch sein Büro ist.

Auf der Fahrt kommen wir darauf zu sprechen, welche Probleme die Massai im Augenblick haben. Und nicht nur sie – das betrifft auch andere nomadische Stämme, die nicht so bekannt sind wie die Massai. Es gibt noch die Irak in der Gegend von Babati und einen weiteren Stamm, dessen Namen ich vergessen habe. Die Probleme stehen in Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum. Die Farmer erweitern eigenmächtig ihre Anbauflächen in ein Gebiet hinein, dass die Massai als ihr Land ansehen. Also treiben sie ihr Vieh, von dem sie auch mehr haben als früher, ohne Rücksicht in die Felder und Gärten.

Die Folge sind gewalttätige Auseinandersetzungen, in der letzten Zeit sogar mit Toten. Wenn das passiert, kommt die Polizei und nimmt nicht selten den Massai die Herden weg. Anschließend verkaufen sie die Rinder auf eigene Rechnung. Ein Staat, der seinen Beamten das schmale Gehalt oft monatelang schuldig bleibt, bietet eben keine Rechtssicherheit. Schon gar nicht für die Hillbillys des Landes. Die Nomadenstämme sind nämlich als Hinterwäldler verschrien. Sie gehören auch nicht zu den Bantus wie alle anderen Stämme, sondern werden von den Ethnologen als „Niloten“ bezeichnet, was auf ihren einstigen Ursprungsort hinweist.

Die Politik des ersten Präsidenten, Niyerere, wollte die verschiedenen Gruppen untereinander mischen. Das hat dem Land auch fast fünfzig Jahre lang inneren Frieden gegeben. (Der einzige Krieg, in den Tanzania verwickelt war, ist der gegen Idi Amin in Uganda gewesen.) Die Massai und die anderen Nomaden sind von dieser Politik aber kaum erfasst worden, auch deshalb, weil sie sich in ihrer eigenen Tradition abgeschlossen haben. Jetzt bricht eine gewalttätige Gegenwart in ihre Kultur ein, und ob es in fünfzig Jahren noch Massai und ähnliche geben wird, die so leben wie manche von ihnen bis heute, ist mehr als fraglich.

In der Kirchenleitung beginnt der Tag mit einer Morgenandacht, zu der ein Teil der Delegation aus Nordelbien kommt: Bischof Ulrich mit Referent, der Leiter des NMZ und der Afrikareferent Volker Schauer. Der macht große Augen, als er mich sieht. Er weiß zwar, dass ich in Tanzania bin, aber offensichtlich hat er heute und hier nicht mit mir gerechnet.

Der Bischof muss ein Grußwort sprechen, dann Volker Schauer und zum Schluss ich. Anschließend gibt es ein bisschen Small Talk in der Runde. Die Delegation hat noch ein Stressprogramm vor sich, und ich werde in das Büro der LMC begleitet, wo mich der Leiter seinen beiden langjährigen Mitarbeitern vorstellt. Dabei trinke ich dem Büro den letzten Kaffee weg und werde deshalb mit einem Fahrer der Kirchenleitung nach Makumira zurückgeschickt.

Der Ausdruck „Kirchenleitung“ ist etwas irreführend. Die ELCT (Evangelisch Lutherische Kirchen Tanzanias) ist keine Landeskirche nach unserem Verständnis, sondern ein Zusammenschluss der einzelnen Diezösen (Bischofsbereiche). Die wiederum sind in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts aus den „Kirchen“ verschiedener Missions­gesell­schaften entstanden. Bis heute pochen die Diezösen sehr auf ihre Eigenständigkeit. Die ELCT kann man eher mit unserer EKD vergleichen.

Nach dem Mittagessen kommt der Verbindungsmann für die Schülerunterstützung meiner Gemeinde (in Nusse) vorbei, um Quittungen für das gezahlte Schulgeld zu bringen. Dass das klappt, ist hier nicht selbstverständlich. Ich merke außerdem inzwischen selbst, was andere mir schon mehrmals gesagt haben: es ist einfach wichtig, häufig und persönlich miteinander zu reden. Die Tanzanier brauchen vertraute Gesichter und sie brauchen Formulierungen, die sie in ihre Welt einordnen können, mehr noch als wir Europäer.

Außerdem muss man bedenken, dass die Unterhaltung auf Englisch, also für beide in einer fremden Sprache,  ein nicht zu unterschätzendes Verständnisrisiko birgt – man macht Fehler im Quadrat, sozusagen. Das ist mir auch bei Gesprächen mit den Studenten aufgefallen. Dazu kommt die gegenseitige Unkenntnis über die Lebensumstände, Erwartungen und Möglich­keiten hüben wie drüben.

Es ist jetzt Nachmittag und ich mache einen Ausflug in das Afrika hinter der Hecke. Mit mir sind drei Girls als Guides and Models (ich komme mir vor wie bei „Drei Engel für Charly“), unter ihnen die älteste Tochter meines Chefs zum Dolmetschen und zwei kaffeebraune Teenager (schwarzer Kaffee mit ein wenig Sahne).

Ich will in den kleinen Läden Kangas kaufen. Kangas sind buntbedruckte Tücher von Tischtuchgröße (für sehr große Tische). Außerdem will ich endlich einmal in dem Gelände Filmaufnahmen machen. Dazu brauche ich die drei Mädchen als Ausrede. Ich scheue mich immer noch, den Leuten ungefragt die Kamera unter die Nase zu halten, und um zu fragen, kann ich zu wenig Kisuaheli. Von wegen, mit Englisch kommt man überall weiter – hinter der Hecke jedenfalls nicht!

Die Mutter eines der Mädchen, die bei mir sind, verdient sich ein bisschen Geld damit, die Kraushaare der Frauen zu Zöpfen zu flechten, und ich darf ein paar Aufnahmen davon machen. Irgendetwas muss sie davon gesagt haben, dass sie einen neuen Haartrockner braucht, aber die Mädchen bügeln das ab – ich sei ein Freund der Familie Stubbs.

Nebenbei lerne ich, wie man sich besonders lässig grüßt: „Mambo!“ „Poa!“ („Wie läuft´s, Mann?“ – „Cool, ee!“)

Die kleinen Läden, in denen Stoffe verkauft und Kleider genäht werden, befinden sich an der Hauptstraße und sind wirklich eine Welt ohne Touristen. Wer im Auto sitzt, rauscht an diesen Dukas vorbei. Der schönste Kanga in einem Laden ist leider schon verkauft, deshalb begnüge ich mich mit dem zweitbesten. Die Mädchen plappern ohne Ende, aber ohne sie hätte ich wohl das Doppelte bezahlt.

Es geht wieder zurück auf demselben Weg, und ich entdecke jetzt erst, dass an manchen Gemüseständen ein Feuerchen unter einer Pfanne auf einer Mafiga, der Dreisteinkochstelle brennt und an einem Lattengerüst getrockneter Fisch angeboten wird. Kleine Jungen spielen Reifen-Rollen mit ausrangierten Fahrradreifen. Solche aus Holz, wie ich sie noch von früher kenne, gibt es hier nicht.

Der Abend endet in der Cafeteria, mit zwei Schwedinnen am Tisch, die bei Familie Stubbs Gäste zum Übernachten sind. Ich habe das Haus meines Chefs eigentlich nie ohne irgendwelche Gäste gesehen (mich eingeschlossen).

---------------------------

Dienstag
Afrika will mir in seiner uralten Weisheit den Abschied erleichtern. Der Morgen ist trübe und regnerisch. Die kleinen Meerkatzen hocken lahm im Regen, und die Studenten, die sonst in Gruppen auf dem Rasen sitzen, ziehen es vor, unter Dach zu diskutieren.

Der Computer läuft – langsam, wie es seinem Alter angemessen ist - und kopiert die Filmszenen vom Konzert. Ich schnappe mir die Posaune und übe. Zwischendurch fertige ich eine Fehlerkorrekturliste für das Studienbuch an (sie ist sehr kurz) und bringe einen überzähligen Koffer in das Haus Stubbs. Dort weiß man, wer ihn noch gebrauchen kann.

Inzwischen hat sich der Regen verzogen und der Himmel wird etwas heller. Als wir zu dritt -und zusätzlich bepackt mit zwei Schwedinnen - nach Arusha fahren, ist die Sonne wieder da, als wäre nichts gewesen. Die Stadt präsentiert sich für mein Gefühl noch staubiger und abgasgeschwängerter als sonst. Bei einem Halt an einer der zwei Ampeln, die es gibt, rauscht ein Polizeikonvoi an uns vorbei. Es handelt sich um den Transport von Prozessgefangenen des Rwanda Tribunals, das seit fast zehn Jahren in Arusha tagt. Möglicherweise wird es in diesem Jahr zum Abschluss kommen, und viele international Beteiligte fahren nach Hause.

Für die Tanzanische Regierung und die Stadt ist das eine bittere Pille, denn eine ganze Reihe hochbezahlter UN Mitarbeiter und Beauftragter hat in diesen Jahren viel Geld dagelassen – das kann doch nicht einfach vorbei sein. Das es irgendwann vorbei sein würde, war abzusehen, aber erst jetzt beginnt man sich zu fragen, was denn künftig mit den Gebäuden geschehen soll. Diese Überlegungen werden noch lange nach dem Ende des Tribunals im Gange sein. Die Gebäude werden leer stehen und die Regierung Geld verlieren. An den für die Planung zuständigen Stellen sitzen einfach zu viele unfähige Schmarotzer.

Das hat etwas mit tief verwurzelten Sozialstrukturen zu tun. Der Zusammenhalt in den einzelnen Großfamilien ist immer noch stark. Man unterstützt sich so gut es geht. Das ist bei den meisten Menschen hier selbstverständlich. Wer also ein hoch bezahltes Amt innehat, von dem wird ganz klar erwartet, dass er nun für die Seinen sorgt. Wenn er das verweigert, gilt er als Verräter und die Sippe sagt sich von ihm los. Er verliert seinen Rückhalt und vereinsamt. Etwas Schlimmeres kann einem traditionell verwurzelten Afrikaner kaum passieren.

Damit ihm also nicht alle auf der Tasche liegen, wird ein Amtsinhaber so viele Verwandte wie irgend möglich in Regierungs- und Verwaltungspositionen unterbringen, ob sie sich dafür eignen oder nicht. Es kann also an irgendeiner wichtigen Stelle ein kompletter Idiot sitzen, nur weil er der Verwandte einer „Dicken Kartoffel“ ist.

Die Einkäufe sind diesmal relativ flott erledigt, und wir haben noch eine Stunde Zeit, den Kunsthandwerkmarkt zu besuchen, der unter freiem Himmel über hundert kleine Buden von doppelter Telefonzellengröße aufbieten kann. (Das ist etwas übertrieben, ein wenig größer sind die Buden schon.)

Als höflicher Tourist fängt man damit an, in jede Bude zu gehen, um keinen Verkäufer und keine Verkäuferin zu kränken. Nachdem man festgestellt hat, dass fast alle dasselbe verkaufen, guckt man nur noch in jede zweite, dann nur in noch in eine Bude pro Reihe und auf einmal ist sowieso Schluss, weil gegen sechs Uhr alles dicht gemacht wird. Elektrische Beleuchtung gibt es hier nicht und für die sonst üblichen Kerosinfunzeln ist es zu eng und feuergefährlich.

Auf der Rückfahrt kommt das Gespräch auf die Schulpädagogik des Landes und woran es liegen könnte, dass gut die Hälfte aller Schüler und Studenten den Anforderungen nicht genügt und in den Prüfungen durchfällt. Randy Stubbs weiß von seinen Studenten, wie es ihnen ergangen ist: In ihrer Schulzeit seien Fragen ausdrücklich verboten gewesen. Als Schüler hätten sie aufschreiben müssen, was ihnen der Lehrer erzählt oder vorgelesen hatte und das dann auswendig zu lernen. Kein Mensch war daran interessiert, ob sie irgendetwas verstanden hatten. Diese Un-methode würde sich nur ganz allmählich ändern.

Die Regierung und die Universitätsspitze möchte die Statistik schnell ändern (und vor allem billig). Also werden nicht etwa die Lehrer fortgebildet und mehr eingestellt, nein, man plant, die Anforderungen für die Zensuren zu senken. Daraufhin werden die Erfolgszahlen natürlich nach oben schnellen. Wenn die eigenen Studenten dann international keinen Erfolg haben, liegt das natürlich daran, dass man die Afrikaner diskriminiert ...  Man sollte solche Leute in Säcke packen und im Viktoriasee versenken.

Wir kommen nach Haus, als es fast schon dunkel ist. Ein klarer Nachthimmel zeigt sich, und eine schmale Mondsichel schaukelt auf dem Rücken liegend über den Baumkronen.

Mittwoch
Der Morgen beginnt mit einer Trompeten Übungsstunde. Wir spielen: „Hab oft im Kreise der Lieben“. Zum Schluss singt der Student die abgedruckte erste Strophe auf Deutsch vor, um mir eine Freude zu machen. Das finde ich sehr nett und auch beeindruckend, denn so leicht fällt ihm die deutsche Aussprache nicht (das geht allen so).

Der „Deutschunterricht“ ist inzwischen erweitert worden. Nachdem sich herausgestellt hat, dass „Moin, Moin“ auch in Finnland verbreitet ist, haben wir die Grußformeln auf „Guten Morgen“, „Guten Tag“, „Guten Abend“ und „Tschüß“ erweitert. Auch „Danke schön“, „Bitte sehr“, „Guten Appetit“ und „Hüftschwung“ wurde eingeführt, aber der Versuch die Umlaute auszusprechen, sorgt immer noch für viel Heiterkeit.

Der späte Vormittag ist für eine amerikanische Dozentin für Musikerziehung reserviert. Sie stellt Untersuchungs­methoden für die Musikforschung auf ihrem Gebiet vor. Mein passives Englisch hat sich inzwischen soweit gebessert, dass ich fast alles mitbekomme (abgesehen von ein paar Spezialausdrücken). Sie spricht aber auch relativ deutlich und nicht allzu amerikanisch. (Wobei das wohl auch davon abhängt, aus welcher Gegend in den USA jemand kommt. Umgekehrt wird wahrscheinlich ein Kölner einem Deutsch sprechenden Amerikaner Probleme bereiten.)

Donnerstag
Ein letztes Mal „African Ensemble“. Die Studenten wiederholen Tänze aus dem letzten Semester, die sie für eine Fahrt nach Dar es Salam brauchen. Anschließend gibt es ein Familienfoto mit allen.
Am frühen Abend treffen wir uns zu einer letzten Quartettprobe mit mir und morgen früh wird der letzte Bläsereinsatz beim Morgengebet sein.

Freitag
Das Quartett hat seine Sache beim Morgengebet gut gemacht, und damit endet mein letzter offizieller Einsatz. Kann sein, dass der eine oder andere Student noch eine extra Übungs­stun­de haben möchte, aber bis jetzt hat sich noch keiner gemeldet.

Zum Wochenende werde ich noch einmal die Kirchengemeinde in Usa River besuchen, die ich von vor drei Jahren kenne und dann zwei Tage lang bis zu meinem Abflug etwas verloren auf dem Gelände umherirren, da die Studenten ihre theoretischen Prüfungen hinter sich bringen müssen. (Wahrscheinlich fällt mir aber noch etwas besseres ein.)

Drei Monate Begleitung beim Bläserunterricht werden dann hinter mir liegen, mit ausnahmslos freundlichen und musikbegeisterten Studenten und einem Lehrkörper, der mich von Anfang willkommen geheißen hat. Die Familie meines Chefs hat sich auch persönlich sehr um mich gekümmert. Das ist eine sehr schöne und keineswegs selbstverständliche Erfahrung. Nebenbei habe ich den einen und anderen Ort im Land gesehen, an dem ich vorher noch nie gewesen bin.

Ich habe den Eindruck, dass mein Einsatz an der Universität Makumira nicht überflüssig oder erfolglos gewesen ist. Ich musste dabei lernen, dass die Umstände, unter denen die Musikstudenten hier arbeiten, um einiges schwieriger sind als bei uns, auch wenn die Uni weitaus mehr Möglichkeiten bietet, als es z.B. eine Kirchengemeinde kann. Aber im Bereich der Bläserarbeit fehlt es an Notenmaterial, an Pflegemitteln und an Handwerkern, die Instrumente reparieren können. Und es fehlt an Möglichkeiten und Zeit, sich einfach aus Freude am Musizieren zu treffen. Die Musikstudenten haben von allen an der Uni die wenigste Zeit für sich selbst.

Natürlich soll ich im nächsten Semester wiederkommen, und ich glaube, das war nicht nur aus Höflichkeit gesagt. Aber im nächsten Jahr wird es mir ganz sicher unmöglich sein, und danach: wer weiß? – so Gott will und wir leben, heißt es im Jakobusbrief.

In ein paar Tagen also: Good bye, Afrika.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen